Im Gespräch: Kirsten Boie

Mit Kirsten Boie könnte man wahrscheinlich stundenlang über zahlreiche Themen sprechen. Sie ist nicht nur als erfolgreiche Kinderbuchautorin bekannt, sondern engagiert sich für einige soziale Projekte und hat letztes Jahr politisch mit der „Hamburger Erklärung“ auf die dringende Leseförderung an Schulen aufmerksam gemacht. Das Bedürfnis an Leseförderung liegt ihr nicht nur in Deutschland sehr am Herzen, sondern auch in Eswatini (ehemaliges Swasiland). Dort unterstützt sie mit ihrer Möwenweg-Stiftung AIDS-Waisen und versucht ihnen Bilderbücher und Lesevergnügen in der eigenen Sprache zu verschaffen. Mit „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“, sowie der „Thabo – Reihe“ hat Kirsten Boie schon mehrere Bücher über Eswatini geschrieben. Wir sprachen über ihre Bücher und die Kritik, dass sie als Deutsche über Schicksale schreibt, die sie nie persönlich erlebt hat.

Martina: Frau Boie, ihre Bilderbücher scheinen immer eine tiefere Aussage zu haben. Müssen gute Kinderbücher eigentlich eine Aussage haben?

Kirsten Boie: Ich denke, jedes Buch sagt etwas aus. Das ergibt sich von selbst. Auch Bücher, bei denen es nicht um ein spezielles Thema geht, sagen etwas aus. Es gibt eine Menge Bücher, bei denen ich eine ganz bestimmte Aussage treffen wollte. Mein Anreiz für das Schreiben ist aber auch, dass die Kinder Spass am Lesen haben. Wenn man Kinder zum Lesen ermuntert und sie wiederholt erfahren, dass Bücher Spass machen, werden sie selbst zu Lesern. Doch auch diese Bücher vermitteln etwas: Jeder Autor und jede Autorin gibt in ihren Büchern seine eigene Weltsicht und seine Einschätzung von gesellschaftlichen Entwicklungen wieder. So bekommen selbst die ganz alltäglichen Geschichten, die man eher für belanglos halten würde, eine Bedeutung. Das lässt sich gar nicht vermeiden.

Martina: Wie entwickeln Sie ihre Geschichten, wenn Sie die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema erreichen möchten?  

Kirsten Boie: Das ist sehr unterschiedlich, aber ein Beispiel hierfür ist „Bestimmt wird alles gut“, eine Fluchtgeschichte. Seit 2013 habe ich erlebt, wie Flüchtlinge in unserem Wohnort angekommen sind. Offensichtlich würden noch mehr kommen, da sich die Weltlage ja so schnell nicht ändert. Aus diesem Grund war es mir wichtig, jungen Kindern zu vermitteln, was hinter so einer Flucht steckt. Ich wollte Verständnis für Kinder wecken, die plötzlich in einer Klasse auftauchen, kein Deutsch sprechen und aufgrund ihrer Erlebnisse vielleicht aggressiv auftreten oder komisch reagieren. Die einzige Idee, die ich zu diesem Buch hatte, war in diesem Moment, dass ich ein Buch schreiben will, dass ihnen den Hintergrund von Flucht beschreibt. Mein großes Glück war nun, dass zwei syrische Kinder schon seit anderthalb Jahren bei uns lebten. Sie sprachen schon so gut Deutsch, dass sie mir ihre Geschichte aus ihrer kindlichen Perspektive erzählen konnten. Sie haben mir viele Details erzählt, auf die ich als Erwachsene gar nie gekommen wäre. Genau diese Stellen in der Geschichte sprechen nun auch deutsche Kinder am Stärksten an. So ging ihnen beispielsweise unterwegs ihre Puppe verloren. Darauf wäre ich als Erwachsene nie gekommen.  

Martina: Die Herausforderung über eine Kultur zu schreiben, die Sie selbst nicht kannten, sind Sie so umgangen. Sie konnten die Geschichte der Kinder weitererzählen.

Ich habe aber gemerkt, wenn wir immer diese tragischen Geschichten erzählen, entsteht dieses traurige Bild von Afrika, das alle Menschen hungernd und elend darstellt. Deshalb wollte ich eine lustige und spannende Geschichte schreiben.

Kirsten Boie: Ja natürlich, ich hätte mich das einfach so wahrscheinlich nicht getraut, weil mir die Erfahrungen dieser Kinder ja vollständig fehlen.

Martina: Sind Ihre Geschichten aus Eswatini ähnlich entstanden? „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ ist ein sehr berührendes Buch.

Kirsten Boie: Vielen Dank. Dazu muss ich sagen, ich engagiere mich seit 2010 in einem Projekt (A.d.R. das Projekt LITSEMBA der Möwenweg-Stiftung), dass AIDS-Waisenkinder unterstützt. Für mich war es immer besonders beeindruckend, wenn ich die Familien zuhause besucht und gesehen habe, unter welchen Bedingungen sie leben. Ein paar Besuche waren so schockierend, dass ich diese Geschichten, in gewisser Weise als Verarbeitungsgeschichten, für mich selbst geschrieben habe. Ich hatte anfangs eine gewisse Skepsis, ob ich dies aus der Perspektive dieser Kinder erzählen darf. Gleichzeitig war mir bewusst, dass von dort niemand kommen wird, um hier davon zu erzählen. Ich empfinde es als sinnvoll, dass Kinder und Jugendliche hier von diesen Schicksalen erfahren. Aus diesem Grund habe ich „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ dann veröffentlicht.

Martina: In gewisser Weise gewagt, höre ich heraus?

Kirsten Boie: Gewagt. Genau! Zu diesem Zeitpunkt, war ich selbst auch sehr skeptisch. Es gab Rückmeldungen, die mir kulturellen Kolonialismus vorwarfen. Heute habe ich einen klaren Standpunkt dazu: Ich war nun viel in Eswatini unterwegs und weiß viel über das Leben auf dem Land. Also darf sich jeder beschweren, sobald Bücher von Autoren aus Eswatini, Südafrika oder Mosambik auf dem Markt sind. Solange es diese Literatur aber noch nicht gibt, dürfen wir auch positive Geschichten andere Länder erzählen, die das Bild, das unsere Kinder hier haben, ein bisschen erweitern.

Martina: Gibt es denn Bilder- oder Kinderbücher in Eswatini? In Tansania musste ich sehr lange nach Bilderbüchern in der Landessprache Kiswahili suchen.

Kirsten Boie: Ich habe im Zusammenhang mit unserem Projekt, für das wir Bilderbücher beschaffen wollten, festgestellt: Es gibt keine Bilderbücher in der Landessprache. Vielleicht in den großen Sprachen und organisiert in Hilfsprojekten, aber Bücher in der Landessprache können sich kommerziell nicht rechnen, weil es die Tradition des Vorlesens gar nicht gibt.  

Martina: Es fehlt wahrscheinlich auch an den Lesern?

Kirsten Boie: Genau. Lesen zum Vergnügen, also nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene, hat dort keine Tradition. Ich habe mich wirklich gut informiert und war in verschiedenen Büchereien in Eswatini und habe mit den Bibliothekaren und Bibliothekarinnen gesprochen. Sie haben kein Budget für Bücher. Das Motto für Bibliotheken lautet: Libraries are for capacitating people. Das heißt, sie sind da, um Menschen zu qualifizieren. Das tun sie in Kursen, in denen es um Landwirtschaft geht, oder wie man sich am Besten bewirbt. Das ist ein wichtiger und guter Ansatz, Bücher sind hier aber zweitrangig. 

Martina: Konnten Sie dann trotzdem noch Bücher für ihre Möwenwegstiftung finden?

Kirsten Boie: Ja, also ich war vorher schon im Kontakt mit verschiedenen afrikanischen Projekten, wie Worldreader, Book Dash oder African Storybook. Diese Projekte stellen Online-Plattformen zur Verfügung, von denen die Leute sich die Bilderbücher kostenlos auf ihr Handy herunterladen können, denn ein Handy  hat fast jeder. Eltern können die Geschichten, die von Ehrenamtlichen in die Landesprache übersetzt wurden, dann auf dem Handy mit ihren Kindern anschauen bzw. lesen.

Martina: Dort sind Sie dann fündig geworden?

Kirsten Boie: Ja, über „African Storybook“ habe ich mir erstmal Bücher auf Englisch angeschaut, und sie dann in Siswaki – Versionen als zwei Bilderbuchanthologien zusammengestellt. Die Qualität dieser Bilderbücher ist in der Regel nicht großartig, aber für Kinder, die überhaupt keine Bilderbücher kennen, ist es schon mal toll. Anfangs haben wir sie nur für jedes der Betreuungshäuser drucken lassen, so dass die Frauen den Kindern vorlesen konnten. Mittlerweile bekommen alle Kinder ein Eigenes. Das ist für sie etwas Besonderes, wenn sie ihr eigenes Buch in ihrer eigenen Sprache besitzen dürfen.   

Martina: Es gibt ja wirklich viele sehr gute Bilderbücher gänzlich ohne Text. Diese würden die Kinder in Eswatini nicht ansprechen, da sie sehr weit weg von der realen Lebenswelt der Kinder sind. Das wäre ja sonst eine naheliegende Möglichkeit.  

Kirsten Boie: Ganz genau so ist das! Das habe ich in einem anderen Zusammenhang nocheinmal bemerkt. Ich unterstütze das Leseförderprojekt Bücherpiraten in Lübeck. Eines ihrer Projekte heißt „1001 Buch“. Da werden Bilderbücher eingestellt, welche die Kinder selbst entwickelt haben. Diese kann man sich auch in vielen Sprachen herunterladen. Eines der ersten Bilderbücher habe ich mitbetreut: Die Kinder haben eine Geschichte entwickelt von einem Löwen und einem Affen. Wir sind beabsichtigt auf Tiere ausgewichen, weil ich ihnen erklärt habe, dass die Kinder in anderen Ländern sich in ihrer Lebenswelt nicht so gut auskennen. Bei meinem nächsten Aufenthalt in Eswatini habe ich dann gehört, dass „Baboons“ (Paviane, Anm. d. R.) dort einen sehr schlechten Ruf haben, weil auf ihnen die Hexen reiten. Die Gruppennamen in den Carepoints waren mit Tieren besetzt, aber keiner wäre auf die Idee gekommen eine Gruppe nach Affen zu benennen. Die Geschichte, die ich mir mit den Kindern in Deutschland ausgedacht hatte, funktionierte schon deshalb nicht, weil Affen in Eswatini negativ besetzt sind. So etwas erfährt man aber leider nur am Rande.

Martina: Die „Thabo“ – Reihe, die Sie geschrieben haben, spielt in Eswatini. Sind diese Bücher für die Kinder dort zu bekommen? Dieses Kinderbuch würde ja die Lebenswelt widerspiegeln.

Kirsten Boie: Ja, wir hatten es vor. Die damalige Vertreterin der BRD war Feuer und Flamme und wollte es unbedingt übersetzen lassen, so dass es, gerade an Schulen, kostenlos verteilt werden könnte. Das Problem ist: Wer spricht Deutsch und Siswaki so fließend? Es gab eine Lehrerin, die wir zum Übersetzen gefunden hätten, aber sie ist leider vorher verstorben. Da es die Thabo – Reihe nicht auf Englisch gibt, reicht eine Übersetzerin Englisch/ Siswaki nicht aus.  

Martina: Mit der Thabo-Reihe wollten Sie ein Kinderbuch schreiben, dass das manchmal schwierige Leben in Eswatini von einer positiven Seite zeigt?  

Kirsten Boie: Der Grund, die Thabo-Bücher zu schreiben, war natürlich auch, dass ich große Lust hatte, eine abenteuerliche Geschichte in Eswatini zu schreiben. Ich hatte mit „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ viele Lesungen gemacht und das waren sehr schöne Erfahrungen, gerade bei Jugendlichen. Ich habe aber gemerkt, wenn wir immer diese tragischen Geschichten erzählen, entsteht dieses traurige Bild von Afrika, das alle Menschen hungernd und elend darstellt. Deshalb wollte ich eine lustige und spannende Geschichte schreiben. Diese Geschichte, die man zum Vergnügen lesen kann, sollte die Neugier wecken, dieses Land besser kennenzulernen.

Martina: Und über Eswatini wissen Sie mittlerweile so viel, dass sie über Land und Leute schreiben dürfen?

Kirsten Boie: Ich bin seit inzwischen elf Jahren mit meiner Möwenwegstiftung vor Ort. Wir sind nicht in der Hauptstadt Mbabane, sondern wirklich in abgelegenen Gebieten unterwegs. Ich möchte nicht eingebildet klingen, doch wenn ich mit den Rotariern in der Hauptstadt spreche, die uns und unsere Arbeit sehr unterstützen, merke ich, dass sie von dem Leben auf dem Land viel weniger wissen als ich. Das ist ähnlich, wenn Menschen aus der deutschen Mittelschicht beurteilen möchten, wie es in einem sozialen Brennpunkt zugeht. Das können sie nur, wenn sie dort wohnen oder arbeiten. Insofern denke ich, dass ich nicht über das Leben in der Hauptstadt, aber über das Leben auf dem Land, schreiben kann. Wir brauchen positive Geschichten über diese Länder, die den Eindruck unserer Kinder erweitern. 

Ich wollte Verständnis für Kinder wecken, die plötzlich in einer Klasse auftauchen, kein Deutsch sprechen und aufgrund ihrer Erlebnisse vielleicht aggressiv auftreten oder komisch reagieren.

Martina: Das erinnert mich an den TED-Talk The danger of a single story von Chimamanda Ngozi Adichie.

Kirsten Boie: Ja, der ist wirklich toll! Wir brauchen auf jeden Fall mehr positive Geschichten aus diesen Ländern. Aber gleichfalls glaube ich, dass es noch ein weiter Weg sein wird. Ich habe in Johannisburg 2017 einen Schreibworkshop gegeben. Mit einigen der Frauen bin ich immer noch in Kontakt. Es war ein sehr spannendes Erlebnis, weil wir uns auch über das Schreiben hinaus kennenlernen konnten. Die Texte, die sie geschrieben haben, waren hervorragend. Allerdings wurde mir bewusst, dass es nicht am guten Schreiben liegt. Es gibt ein anderes massives Problem, warum so wenige Bücher hier verlegt werden. Die bekannten afrikanischen Autoren und Autorinnen, wie Chimamanda Ngozi Andichie oder Tomi Adeyemi, schreiben ihre Bücher auf der Grundlange der Normen des Landes, in dem sie leben und studiert haben (der USA, Anm. d. R.).

Martina: Die Texte und Schriften, die Sie erarbeitet haben, unterlagen anderen Werten?

Kirsten Boie: Ja! Denn, das wissen sie auch aus Tansania, es gibt vollkommen andere gesellschaftliche Spielregeln. Die moralischen Ansprüche dieser Kinder- und Jugendbücher sind ganz andere. Die Jugendlichen, die sich Schminken, rauchen und Alkohol trinken sind die Bösen und die Angepassten werden erfolgreich.

Martina: Das geht nun eigentlich auf die Frage vom Anfang zurück, Kinderbücher haben immer eine Aussage, weil sie die Weltsicht des Autors wiedergeben.

Kirsten Boie: Ja, und für uns wird es deshalb erstmal schwierig sein, Kinderbücher aus diesen Ländern zu bekommen, die unseren Wertvorstellungen nicht stark widersprechen. Ich würde mir so etwas wie Americanah im Kinderbereich wünschen. Etwas was in einem afrikanischen Land spielt, aber unseren Wertvorstellungen entspricht. So ein Buch würde das Bild, das Kinder und Jugendliche von afrikanischen Ländern haben, ergänzen und neue Aspekte hinzufügen.

Martina: Ja, das wäre sehr wichtig. Ich bedanke mich herzlich, dass sie sich die Zeit genommen haben!


Bestimmt wird alles gut
Autorin: Kirsten Boie
Illustrator: Jan Birck
Klett Kinderbuch, 2016
Ab 6 Jahren
ISBN: 978-3-95470-134-6

Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen
Autorin: Kirsten Boie
Illustratorin: Regina Kehn
Oetinger-Verlag, 2016
Ab 14 Jahren
ISBN: 978-3-8415-0441-8

Thabo – Detektiv & Gentleman
Autorin: Kirsten Boie
Illustratorin: Maja Bohn Oetinger-Verlag

  • Der Nashorn-Fall, 2016
  • Die Krokodil-Spur, 2016
  • Der Rinderdieb, 2017
  • Diebe im Safari-Park, 2019

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